26. Juni 2023

Philosophieren mit Eichen und Buchen, Weiden und Platanen, Linden und Birken

Ein Erfahrungsbericht von der Schule Langbargheide.

Voll bepackt mit sechs Kartons »Gedankenflieger«-Magazinen, einem Aufsteller, Namensschildern, Plakaten, Stickern und Postkarten kommen wir früh an einem herrlichen Sommermorgen an der Grundschule Langbargheide in Lurup an. Hier dürfen wir – das sind diesmal Anne Jaspersen, Jörg Bernardy und Stefanie Segatz – mit der Unterstützung der »Stiftung Kinderjahre« in den kommenden Tagen sechsmal mit altersgemischten Klassen der Klassenstufen 3+4 die Gedanken zum Thema »Was ist Zeit?« fliegen lassen.

 

Schon beim Betreten des weiträumigen Schulhofes fällt eine liegende Skulptur auf, die in den Tag hineinzuträumen scheint – der perfekte Einstieg, um selbst ein wenig zu entschleunigen und einen Moment zu verweilen. Nur wenige Schritte weiter ist die Schulverwaltung. Als beim erneuten Aufnehmen des Materials eine Plakatrolle entgleitet, ist sofort Jamie zur Stelle, um zu helfen. Was für ein freundlicher Auftakt!

Es stellt sich heraus, dass Jamie zu den Baumklassen gehört, mit denen wir in den kommenden Tagen philosophieren. Wie schön, einmal mit Eichen und Buchen, Weiden und Platanen, Linden und Birken ins Gespräch zu kommen! Im Schulbüro werden wir freundlich empfangen, auch die Schulleiterin begrüßt uns herzlich und wir machen uns auf in Richtung Klassenzimmer.

 

Jedes Klassenzimmer ist anders und wir wissen nie, was uns erwartet. Ist ein Stuhlkreis möglich? Vielleicht sogar schon aufgebaut? Funktioniert die Technik? Ist der Raum eventuell verdunkelbar, damit auch bei hellem Sonnenschein die durch den Beamer an die Wand projizierten Bilderbuchseiten gut erkennbar sind?

Hier stimmt alles, und kaum haben wir unseren »Gedankenflieger«-Aufsteller platziert und die Technik gecheckt, hören wir auch schon die ersten Kinderstimmen. Es sind die Eichen!

Jeder Gedankenflug beginnt mit einer kurzen Vorstellung, bevor wir dann in die Sitzrunde gehen und Namensaufkleber beschriften. Oft werden uns von den Lehrkräften bereits vorhandene Namensschilder angeboten, doch uns ist die erste direkte Kontaktaufnahme mit den Kindern eminent wichtig.

 

Wir bewegen uns bewusst auf Augenhöhe, zeigen Freundlichkeit und Interesse, stellen erste kleine Fragen, die im Verlauf des Gesprächs vielleicht plötzlich Sinn ergeben – zum Beispiel die Frage nach dem Geburtstag, die im Kontext »Zeit« plötzlich zum Thema wird, wenn es um Jahreszeiten und Kreisläufe, aber auch um besondere Momente und eine Zeit der Vorfreude geht.

Oft entscheiden wir spontan nach dieser ersten kleinen Runde, die manche Lehrkraft als Zeitverschwendung erscheinen könnte, mit welchem Buch wir arbeiten werden, welche Geschichte und welche damit verbundenen Aspekte zum Thema Zeit wir speziell für diese Klasse für geeignet halten. Und tatsächlich sind wir uns hier oft sofort einig, denn wir arbeiten seit Jahren zusammen und bündeln im stetigen Austausch unsere Erfahrungen.

Unsere Einstiege in das Philosophieren variieren. Wir thematisieren z. B. den Projektnamen: Was bedeutet es, die Gedanken fliegen zu lassen?

»Die Gedanken wohnen in der Birne!«, sagt Nick, der Fußballspieler. Samuel von den Platanen denkt über das Fliegen nach: »Da sehe ich alles von ganz weit oben, alles sieht ganz klein aus und viel ordentlicher«. Distanz einnehmen und die Perspektive wechseln – wichtige Haltungen für das Philosophieren.

Oder wir beschäftigen uns mit der Etymologie des Wortes Philosophie. Oft haben wir sowohl einen Philipp als auch eine Sophie in der Klasse und nur selten kennen sie die Bedeutung ihrer Namen. Dass sich also die Philosophen als »Freunde der Weisheit« bezeichnen und sich aus Liebe zum Wissen und dem Wunsch nach Erkenntnis miteinander austauschen, ist ein echtes Aha-Erlebnis. Und wenn man dann bedenkt, dass dies schon seit über 2500 Jahren nicht nur eine Wissenschaft, sondern auch eine gelebte Praxis ist, sind wir ganz schnell schon wieder bei unserem Thema »Zeit«.

 

Jörg Bernardy erzählt den Weiden von dem berühmten Philosophen Platon, der die Gedanken in einem Kopf bzw. in der »Birne« mit einem Vogelhaus verglich, in dem die Gedanken ein- und ausfliegen, sodass man sie gar nicht zählen kann.

In einer kurzen Übung schließen wir alle unsere Augen und zählen unsere Gedanken. Bei den Weiden schwankt es zwischen einem und sieben Gedanken, oft gibt es jedoch auch hunderte oder Millionen – oder unendlich viele. »Wenn ich die Augen zumache, kann ich meine Gedanken fühlen«, beobachtet Arhad.

Ganz schnell kommen wir zu der Erkenntnis, dass zu den Gefühlen und Gedanken auch die Erinnerungen gehören. Und Erinnerungen sind in der Zeit verortet. Wie von selbst ergibt sich ein nachdenkliches Gespräch über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

 

Nicht nur mit Anne Jaspersen, einer ausgebildeten Sängerin, steigen wir gerne musikalisch ein. Der »Gedankenflieger«-Song eignet sich hervorragend, um unser Anliegen zu adressieren: »Wir Gedankenflieger woll‘n die Welt verstehen!« – und über die wichtigen Fragen des Lebens ins Gespräch kommen. »Wem gehört die ganze Welt?«, »Warum fehlt mir so oft der Mut?«. Manche Kinder summen oder singen sofort mit, andere hören aufmerksam zu, weitere genießen die entspannte Stimmung und fassen Vertrauen in die Situation.

 

Zur philosophischen Frage »Was ist Zeit?« fällt allen Kindern sofort etwas ein. Wir hören aufmerksam zu, verknüpfen die Gedankengänge, lassen Unterschiedliches nebeneinanderstehen und schauen, ob es im Gesprächsverlauf vielleicht doch Gemeinsamkeiten gibt, oder ob Unterschiede vielleicht sehr wichtig sind.

Fragen ergeben sich spontan aus der eigenen Erfahrungswelt: Es gibt Stoppuhren. »Aber kann man Zeit überhaupt stoppen?«, fragen sich die Linden. Und es gibt Zeiterlebnisse, die geteilte Erinnerung sind, wie z. B. die Klassenfahrt der Buchen, an die sich alle gerne erinnern. Andere Zeiterlebnisse sind individuell: der erste Flug, der Tod der Urgroßmutter, das lange Warten darauf, vom Kindergarten abgeholt zu werden.

 

Auf einem mitgebrachten Plakat halten wir die Gedanken fest. Dieses Plakat verbleibt im Klassenzimmer und soll den Einstieg in das Thema erleichtern, wenn die Lehrkräfte mit den Anregungen aus unserem »Gedankenflieger«-Magazin weiter philosophieren.

 

Spieleinheiten lockern das Gespräch auf, machen Spaß und ermutigen dazu, einmal ungewöhnliche Verbindungen zu erkunden und die Fantasie herauszufordern. Unter einem Tuch verborgen liegen z. B. unterschiedliche Gegenstände. Die Kinder können es kaum abwarten, das Geheimnis gelüftet zu sehen.

 

Stefanie Segatz lädt dazu ein, alles genau zu betrachten und zu sagen, welchen Gegenstand sie vielleicht nicht kennen oder nicht zu benennen wissen. Nachdem diese Gegenstände kurz geklärt sind, lautet die Aufgabe: Suche dir einen Gegenstand aus, der für dich in irgendeiner Weise mit Zeit zu tun hat.

Dabei gibt es kein Falsch oder Richtig, sondern allein deine Begründung zählt. Schnell fliegen die Hände in die Luft. Die Kinder dürfen in den Kreis kommen und den Gegenstand in Ruhe in die Hand nehmen.

 

Wir fordern sie auf, zu beschreiben, was sie in der Hand halten und fördern damit die Sprachkompetenz – denn manchmal ist es gar nicht so einfach, ein Tee-Ei oder ein kleines Öllämpchen aus dem arabischen Raum zu beschreiben. Aber auch Babyschuhe, eine Giraffe, eine Muschel, ein Stein, ein Fußball, eine Maske, ein Dino und Sonnenblumensamen haben für die Kinder ganz selbstverständlich mit Zeit zu tun – wenn man nur einmal darüber nachdenkt.

 

Ganz erstaunlich, welche Gedanken hier entspringen: »Das Tee-Ei ist aus Metall. Metall erwärmt sich im heißen Wasser und kühlt dann auch wieder ab. Das braucht Zeit«, meint Jaydee. Das Öllämpchen erinnert an Aladin und die Wunderlampe – ein Märchen aus einer arabischen Sammlung, die über tausend Jahre alt ist. Wie alt können Geschichten eigentlich werden? »Geschichten sterben nie«, meint Zahra. Und darum philosophieren wir auch so gerne mit Bilderbuchgeschichten!

Mit dem Buch »Es war einmal und wird noch lange sein« von Johanna Schaible gehen wir auf Zeitreise. Unser Start beginnt vor Milliarden von Jahren – eine kaum vorstellbare Vergangenheit. Aber Katharina kann das – »denn in Gedanken kann man alles!«.

Über die Zeit der Dinosaurier gelangen wir Station für Station in die vorstellbare Vergangenheit – vor zehn Jahren sah auch Lurup noch ganz anders aus: »Mehr Bäume!«, ruft Georgii, »Mehr Insekten«, weiß Paul Emil, »Der Netto wurde umgebaut!«, hat Samuel beobachtet.

 

Als wir im Jetzt landen, wird es ganz still. Ein »Oooh« ist die Reaktion auf die abgebildete Sternschnuppe. Jedes Kind schließt die Augen und darf sich im Geheimen etwas wünschen. Aber das Jetzt ist auch ganz schnell schon wieder vorbei – es gilt, den Moment zu nutzen! Denn nun beginnt die Zukunft mit vielen Fragen: Wo wirst du morgen sein? Wen wirst du ein einem Monat kennenlernen? Wo wirst du in 10 Jahren wohnen? Wirst du einmal Kinder haben? Was wünschst du dir für die Zukunft?

 

Eine andere Bilderbuchgeschichte, »Paulette und Minosch« von Kerstin Hau und Raffaela Schöbitz, führt uns in Gedanken nach Paris und wir lassen uns auf den Wellen der Seine treiben. »Alles braucht seine Zeit«, weiß Kater Minosch, doch seine Freundin Paulette ist ungeduldig – ihre Pflanze Mimosa trägt verheißungsvolle Knospen, will aber nicht blühen. Eine Geduldsprobe!

Die kennen auch die Kinder nur zu gut und erzählen, in welchen Momenten sie schon einmal geduldig sein mussten: Beim Warten auf die neue Playstation, auf einen Schwimmbadbesuch, auf die Geburt des kleinen Bruders oder Cousins, in der Warteschlange des Einkaufszentrums … und jedes Mal fühlt sich Warten ein wenig anders an.

 

Erfahrbar wird diese unterschiedliche Zeiterfahrung in einer kleinen Übung: Eine Sanduhr läuft genau eine Minute. In der ersten Runde ermuntern wir die Kinder zu Bewegung, Begegnung und Spaß – die Minute fliegt viel zu schnell vorbei.

In der nächsten Runde sind alle still und schauen konzentriert zu, wie der Sand durch die Sanduhr läuft. Das dauert für die meisten ganz schön lange, ist sogar langweilig – und doch handelt es sich beide Male um messbare 60 Sekunden.

 

Während sich in der Bilderbuchgeschichte auch Paulette die Zeit mit unterschiedlichsten Aktivitäten vertreibt, bis ihre Mimosa endlich blüht, wartet der Kater Minosch geduldig vor dem Mauseloch. Wie dumm, dass er sich ausgerechnet immer dann ablenken lässt, wenn die Mäuse immer frecher und zahlreicher aus dem Loch kommen und umherflitzen. So wird in dieser kleinen Nebengeschichte, aufmerksamst verfolgt von den Kindern, mit Witz und Humor noch der Moment des Kairos thematisiert – der günstige Augenblick; den zu erkennen, erwischen und festzuhalten so schwer fällt.

 

Und auf Kairos stoßen wir auch beim Durchblättern des »Gedankenflieger«-Magazins, das wir nach der philosophischen Bilderbuchbetrachtung verteilen. Zu jedem der von uns sorgsam kuratierten Bilderbücher gibt es entsprechende Aufgabenstellungen. Je nach Neigung kann gemalt oder geschrieben werden. So reisen wir z. B. mit der Zeitmaschine und die Kinder entscheiden eigenständig, an welchen Ort der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft sie reisen möchten. Kerim z. B. reist in die Zeit der Dinosaurier, also mehr als 65 Millionen Jahre in die Vergangenheit – »dann kann ich mit den Dinos spielen, auch wenn ich wie ein Chicken Wing gefressen werde!«

 

Die Zeit mit den Baumklassen verging wie im Fluge und wir danken allen Beteiligten: Vera Klischan von der Stiftung Kinderjahre, die unsere Veranstaltungen engagiert begleitet, aber auch den interessierten Lehrkräften und SchulbegleiterInnen, der Schulleitung und ganz besonders den vielen tollen Kindern, die ihre Gedanken – laut oder auch leise – mit uns geteilt haben.

 

Stefanie Segatz