3. Juni 2024

»Mut« On Tour!

Mit Stefanie Segatz, Lukas Biermann und Anne Jaspersen in Salzgitter.

Ein bunter Flickenteppich aus Feldern, Wäldchen, Industrieanlagen, kleinen Dörfern und städtischer Bebauung – das ist Salzgitter. Lustige, kluge, offene, denk- und bewegungsfreudige Kinder leben hier. Sie kommen aus Deutschland und vielen anderen Ländern, sie sprechen Deutsch und viele andere Sprachen, sie bewegen sich in dieser Kultur und sind doch oft auch einer anderen verbunden, die ihr Denken und Fühlen begleitet. Darum macht das Nachdenken über sich und die Welt in Salzgitter besonders große Freude.

 

Der erste Tag führte Lukas Biermann und mich an die Grundschule Am Ostertal in Lebenstedt. Lukas leitete den ersten Gedankenflug. »Was bedeutet Mut?« fragte er. »Wenn man keine Angst hat?«, rätselte Ikra. »Nein, wenn man etwas macht, obwohl man Angst hat!«, widersprach Aabed. Alle nickten. »Gibt es denn Mut ohne Angst?«, fragte Lukas weiter. Manche nickten, andere überlegten. »Das ist ein Pärchen!«, rief Mia. Mut und Angst gehören also irgendwie zusammen, obwohl sie so gegensätzlich sind. Ein Gegensatzpaar!

 

Mit dem Buch »Tina hat Mut« von der georgischen Autorin Tatia Nadareischwili ging es weiter. Ruhig las Lukas vor, alle Kinder waren aufmerksam. »Ist Tina denn mutig?«, fragte er abschließend. »Ja, sie hat ihre Angst überwunden und ist in den Wald gegangen«, meinte Elif. »Aber nur, weil der Kreisel dorthin gezeigt hat«, wandte Muhammad ein. »Ist das dann weniger mutig?«, fragte Lukas. »Es ist mutig, zu vertrauen«, stellte Irfan fest. »Würdet ihr in einer solchen Situation denn dem Kreisel folgen?«, fragte Lukas weiter. Alle Kinder nickten zustimmend. Mutig!

Im »Gedankenflieger-Magazin« schrieben die Kinder einen Ermutigungsbrief. Der Lückentext setzt Impulse, lässt jedoch genug Freiraum für eigene Gedanken. So ermutigte Aabed seinen Freund Salih, der demnächst die Schule wechseln wird. »Bestimmt wirst du neue Freunde kriegen!«

 

Nach der Pause ging es weiter mit der Klasse 3d. Ich hatte ein kleines Spiel vorbereitet. Korrespondierend zum Buch waren in einem Tontopf kleinen Zettel mit Fragen versteckt. Ein Kreisel wurde gedreht und zeigte mit der Spitze auf ein Kind, das so mutig sein durfte, in den unbekannten Topf zu greifen (ist nicht vielleicht doch auch eine Spinne darin?).

»Kann man Mut lernen?«, lautete so z.B. eine Frage und »Was ist das Gegenteil von Mut?« oder auch »Ist Mut ein Gefühl?« Die Kinder beteiligten sich rege, argumentierten, gaben Beispiele aus ihrer Lebenswelt. Dann lasen auch wir gemeinsam das Buch »Tina hat Mut« und meine Abschlussfrage lautete, ob diese Geschichte Mut macht. »Ja, denn sie hat ein gutes Ende!«

 

Im Magazin widmeten wir uns der Aufgabe »Tina hat Poppy – wen hast du?« und fragten uns, wer oder was uns Mut machen kann. Die Kinder durften sich Zeit nehmen und es sich bequem machen. Wie immer nutzten wir diese Zeit der Magazinarbeit für kleine Einzelgespräche, in denen sich oft auch zurückhaltende Kinder öffnen. Wer mochte, durfte seine Ideen und Gedanken vorstellen und wurde für seinen Mut mit einem warmen Applaus bedacht.

Am Tag 2 wechselte sich der Sonnenschein des Vortages mit Regenwolken ab. Wir machten uns auf zur Außenstelle nach Salder. Ein kleines Gebäude mit Fachwerk beherbergt den freundlichen Klassenraum. Heute machte ich den Anfang und startete nach der Einführung ins Philosophieren mit einem großen Glas, in dem viele unterschiedliche Dinge sichtbar waren. Jedes Kind konnte sich einen Gegenstand aussuchen und sich und das Thema »Mut« dazu in Beziehung setzen. So entschied sich ein Kind für ein kleines Ei, weil es tatsächlich Angst vor Eiern hatte. Umay hingegen wählte die Giraffe, »weil sie so groß ist und man viel Mut braucht, sich einem so großen Tier zu nähern«.

Zum etwas trüberen Wetter war das Bilderbuch »Spriedel« von Antoinette Portis ein fröhlicher Kontrast. Leises Vogelgezwitscher aus der mitgebrachten Zwitscherbox lud zum genauen Hinhören ein. Die Klasse 3s nahm die Geschichte vom kleinen braunen Spatz freudig an und wir diskutierten, ob und wann es erlaubt oder sogar geboten ist, einmal aus der Reihe zu tanzen und die üblichen Erwartungen nicht zu erfüllen, Konventionen zu brechen. Welcher Vogel ist in dieser Geschichte mutig? »Für mich ist es auch die weiße Taube, denn sie will den Streit schlichten, und das ist mutig«, argumentierte Elif. Andere fanden die Krähe mutig, die über ihren eigenen Schatten springt und allen Mut zusammennimmt, um auch einmal albern zu sein. Gehört Mut dazu, einmal ganz albern zu sein? »Albern« bedeutet im Althochdeutschen »ganz wahr, freundlich, offen«. Eine neue Erkenntnis, die das Albernsein in einem neuen Licht erscheinen lässt.

 

Im Magazin dachten wir uns eigene Quatschwörter aus, die unsere Sprache erweitern und die Sprachlust wecken. »Summeldumebele« zum Beispiel oder »schlülün« lassen sich ganz hervorragend in den konventionellen Sprachschatz integrieren. Zum Schluss gab es eine Mutprobe – Freiwillige vor!

Es ging darum, in die Mitte zu treten, sein albernes Quatschwort laut vorzutragen und dazu einen mutige Körperbewegung zu machen. Zum Glück gab es sofort mutige Kinder, dann wurden fast alle mutig, stellten sich in den Kreis, riefen laut eigene Wortschöpfungen und trauten sich, auch der körperlichen Fantasie einmal freien Lauf zu lassen. Geradezu akrobatisch waren manche Bewegungen, andere rappten zu dritt. Höhepunkt des Ganzen war, als das mutige Albernsein sogar auf die Lehrerin übersprang und auch sie sich, ganz spriedelgemäß, mit Quatschwörtern und lustigen Bewegungen in die Mitte begab – freiwillig natürlich und bedacht mit standing ovations der Kinder, die zu Recht sehr stolz waren auf ihre mutige Klasse und die noch mutigere Lehrerin.

 

Flugs ging es dann in der Pause zurück zum Hauptgebäude. Hier wartete die nächste dritte Klasse. Wieder stellten wir den Begriff »Mut« auf den Prüfstand und sammelten die Gedanken auf unserer Mindmap, die abschließend zum Weiterdenken in der Klasse verbleibt. Lukas fragte nach, ob Mut denn immer etwas Gutes ist und wir kamen zu der Erkenntnis, dass Übermut gefährlich werden kann. »Man muss sich schon gut überlegen, wann man mutig ist«, meinte Nurefin.

Lukas leitete eine kleine Bewegungsübung ein. Auch diese Klasse war sehr aufmerksam beim Zuhören von »Tina hat Mut«. Manchen Kindern fiel die überwiegend in den Komplementärkontrasten Rot und Grün gehaltene Bildgestaltung auf und wir sprachen kurz über den Mut zur künstlerischen Freiheit. Im Magazin schrieben die Kinder wieder einen Freundschaftsbrief – manche ermutigten einen Freund, andere ihre Geschwister. Wer wollte, konnte seine Gedanken und Ermutigungswünsche für sich behalten, andere lasen gerne laut vor. So wurde z.B. zur Teilnahme am Lesewettbewerb ermutigt und gutes Gelingen gelobt mit dem Zusatz »Ich gönne dir!« Gönnen muss man können, und so war dies ein ganz großartiger Schlussgedanke.

Fliegender Wechsel: Am Tag 3 der »Gedankenflieger-Tour« Salzgitter löse ich Stefanie Segatz ab und lande am Mittwoch schon sehr gespannt (zusammen mit Lukas Biermann) in der Grundschule Steterburg. Nachdem der Begriff des »Philosophierens« besprochen wurde, hatten die Klasse 3a und die halbe Klasse 3b gleich mehrere Antworten parat, als Lukas die Frage stellte: »Was bedeutet eigentlich Mut?«

»Im Dunkeln muss man mutiger sein als im Hellen, denn man kann ja nicht sehen, ob da was lauert« und »wenn man größer wird, wächst auch der Mut«, waren einige der Überlegungen.

Mut bedeutet, sich etwas zu trauen, die Angst zu überwinden. Einige Kinder erzählten von ihrer Angst vor Hunden, »doch wenn man nicht vor ihnen wegrennt, sondern Vertrauen aufbaut, kann man sich vielleicht sogar mit ihnen anfreunden«, rieten andere Kinder. Mut hat also auch etwas mit Vertrauen zu tun. Außerdem kann es hilfreich sein, mit jemandem zu reden, um die Angst zu vertreiben. Gemeinsam ist man mutiger!

So geht es wohl auch Tina in dem Buch »Tina hat Mut«, denn mit dem roten Hund Poppy an ihrer Seite, traut sie sich sogar in den dunklen Bambuswald hinein.

»Würdet ihr euch denn trauen, jemand anderem Mut zu machen, zum Beispiel mit einem Brief?«, fragte Lukas, als das Magazin ausgeteilt wurde. »Na klar«, riefen die Kinder und am Ende kamen sehr schöne, Mut machende Briefe dabei heraus.

 

»Wenn Mut zu Übermut wird, kann Mut auch gefährlich sein.«

(Lea, 9 Jahre)

 

Was für ein kluger Satz gleich zu Beginn der zweiten Gedankenflugrunde mit den Kindern der Klassen 3c und der halben 3b, DENN: Wäre es wirklich mutig, auf einem Krokodil zu reiten? Oder im Schwimmbad von einem Drei-, Fünf,- oder Zehn-Meterbrett zu springen, bloß weil die Anderen einen anfeuern?

Wäre es nicht eigentlich viel mutiger, zu seiner Angst zu stehen und deshalb NICHT zu springen? Ein Junge »gesteht«, dass er vier Versuche (also viel Zeit!) brauchte, bis er sich getraut hat, vom Drei-Meter-Brett zu springen. Er hatte also den Mut, sich seine persönliche Zeit zu nehmen.

In einen Fühlkasten zu greifen, eine Sache zu ertasten und herauszuziehen, schien an dieser Stelle nicht so viel Mut zu erfordern – darüber zu sprechen jedoch offenbar schon; besonders dann, wenn ein Schlumpf-Hochzeitspaar oder ein Herz aus der Kiste gefischt wurde.

»Um peinliche Sachen laut zu sagen, also wenn es ums Küssen geht oder so, braucht man auch ziemlich viel Mut«, bemerkte ein Mädchen. Und wieviel Mut ein Hochzeitstanz erst erfordert – als Paar muss man dann ja ganz allein vor so vielen Leuten tanzen!

»Mut ist, sich ein Herz zu fassen und jemandem zu sagen, dass man ihn mag« oder einer anderen Person sogar einen Heiratsantrag zu machen, DENN: man könnte sich ja eine Abfuhr einhandeln.

Das Buch »Hier kommt keiner durch« von Isabel Minhós Martins und Bernardo P. Carvalho, in dem ein Aufpasser mit Gewehr im Auftrag des Generals eine leere Buchseite bewacht, hat noch ein paar weitere Aspekte hervorgebracht: Einer, der ganz allein! eine leere Seite verteidigt, muss schon ziemlich mutig sein, fanden die Kinder. Besonders, wenn er von vielen Anderen Gegenwind bekommt. Genauso mutig ist es allerdings, wenn so einer später seine Meinung ändert – und eine neue Haltung vertritt, sogar gegen den General!

Im Magazin hatten die Kinder großen Spaß daran, ihre eigenen Mutwesen oder -dinge zu malen. Von starken Drachen mal abgesehen, kann auch ein Schmetterling Mut machen, wenn er fröhlich um einen herumflattert oder eine Gitarre – denn beim Gitarre spielen bekommt man Selbstvertrauen und mit Selbstvertrauen hat man Mut!

Auch am Tag 4 boten das Buch »Hier kommt keiner durch« und die Fühlkiste, in die man blind hineingreift, ausreichend Anlass, um über das Thema »Mut« nachzudenken. Die 4a der Grundschule am Ostertal fand zum Beispiel, dass »Nein sagen« ziemlich mutig sein kann, wenn man sich allein einer Gruppe oder einem Vorgesetzten entgegenstellt (wie im Buch) oder eine Meinung vertritt, die die Anderen nicht teilen.

Natürlich ist es mutig, die eigene Angst zu überwinden, aber genauso mutig kann es sein, »wenn man nicht jeden (vielleicht sogar gefährlichen) Quatsch mitmacht« (wie bei Mutproben) oder mit einer neuen Frisur in die Schule kommt (Mutgedanke beim Ziehen eines Lockenwicklers aus der Fühlbox). Einigkeit bestand darüber, dass man in einer Gruppe mutiger ist, als alleine.

Deshalb haben sich viele Kinder im Magazin auch ihre Familie an die Seite gezeichnet, um geballte Unterstützung in Situationen zu bekommen, die Mut erfordern.

Im Buch »Spriedel« geht es um den Mut, den man braucht, um aus der Reihe zu tanzen und vielleicht mal etwas ganz Neues, Verrücktes, ja sogar Albernes auszuprobieren. Das hat die 3a sehr mutig umgesetzt, indem viele Kinder sich vertrauensvoll mit waghalsigen Mutposen in die Kreismitte warfen.

»Sich auf eine Bühne zu stellen und dort etwas vor vielen Leuten zu machen, wäre noch mutiger«, vermuteten die Kinder und waren außerdem der Meinung, dass man Mut üben könne. Das taten sie dann auch, indem sie einen Mut machenden Brief an eine andere Person oder an sich selbst schrieben. Und einige trauten sich sogar, ihn laut vorzulesen. Dass Presse und Förderer vor Ort waren, spielte für die Kinder dabei gar keine Rolle mehr.

 

Beim Lions-Club Salzgitter möchten wir uns sehr herzlich für die finanzielle Unterstützung bedanken und bei Frau Viering vom Literaturbüro im Fachdienst Kultur der Stadt Salzgitter für das jährliche Organisieren, Begleiten und »Möglich machen« dieser inspierierenden Tour! Wir freuen uns schon riesig auf’s nächste Jahr!

 

Stefanie Segatz und Anne Jaspersen