15. Januar 2023
»Jeder Mensch braucht etwas, auch wenn es nur ein Kissen ist.«
Die erste Reise-Saison am »Gedankenflughafen« Rostock von Inga Faust - ein Rückblick.
Seit August 2022 darf ich nun die »Gedankenflüge« in Rostock und von Rostock aus koordinieren und begleiten. Dass hier nun mehr Fokus auf die »Gedankenflieger« gelegt wird und mehr Veranstaltungen geplant werden dürfen, hat einen ganz großartigen Grund: Rostock ist nun ein »Gedankenflughafen«!
Nachdem Eva Stollreiter im September mit mir die Auftaktveranstaltungen bei uns im Peter Weiss Haus inklusive zauberhaftem roten Faden und Denkmünze gestaltet hat, konnte vom 07. bis zum 11. November 2022 noch eine besondere Premiere in der Tradition der »Gedankenflieger on tour« gefeiert werden. Dadurch, dass wir jetzt »Gedankenflughafen« sind, war dies die erste Überlandtour durch Mecklenburg-Vorpommern, die komplett von Rostock aus geplant und durchgeführt wurde. Außerdem meine erste eigene Überlandtour überhaupt! Am Anfang begleitete mich Ulrike Jänichen zu den Grundschulen in Dummerstorf, dicht an der Rostocker Stadtgrenze und Neu Kaliß, unserem am weitest entferntesten Ziel.
Die anderen Tage führten mich zusammen mit Jörg Bernardy nach Brüel, Ludwigslust und Ribnitz Damgarten. Einige der Stationen sind schon viele Jahre mit den »Gedankenfliegern« verbunden und fiebern diesem besonderen Tag im Schuljahr entgegen. Die Begeisterung für das Projekt konnte man allen Beteiligten anmerken, was es auch für uns Referierende zu tollen
und wertgeschätzten Tagen gemacht hat.
Die Woche gestaltete sich so vielfältig, da wir im stetigen Wechsel an Schulen direkt und aber auch in Bibliotheken unsere Veranstaltungen abhalten durften. In diesen fünf Tagen konnten wir wahrhaft großartige Überlegungen der Kinder mit in unseren Reisekoffer packen. So zum Beispiel in Ludwigslust, von den Einheimischen liebevoll »LuLu« genannt, wo wir mit den Kindern der 3. Klasse erst mal ausgiebig geklärt haben, was denn »Gedankenflieger« überhaupt sein könnten. Dass dieser besondere Begriff auch ganz anders assoziiert werden kann, damit überraschte uns eine Schülerin mit ihrer Aussage: »Ich glaube, Fliegen denken nichts, in das Gehirn, das passt da gar nicht rein!«
Ein weiterer Moment zum Schmunzeln wurde uns geboten, als ein Schüler ganz konzentriert versuchte, seine eigenen Gedanken zu zählen und dabei mit geschlossenen Augen unüberhörbar murmelte »Pommes, Nuggets, Ketchup (…)«.
An anderen Tagen stand ebenfalls die Vielzahl an Gedanken ganz im Fokus. »Ich glaube, man kann nur ein oder zwei Gedanken haben. Weil wenn man etwas denkt, kann man ja nicht an etwas anderes denken. Der Kopf kann sich ja nicht teilen«, hieß es in Ribnitz. Auch, wie das
funktioniert mit dem Weiterdenken wurde erörtert: »Bei mir im Kopf sind Türen, die sich immer mal öffnen, wenn ich mich was frag’«, teilte eine Schülerin in Brüel mit.
Die »Gedankenflieger«-Postkarten bieten immer einen tollen Ausgangspunkt, um
mit den Kindern das philosophische Gespräch anzufeuern. Immer wieder erlebe
ich dabei, dass Kinder so richtig »warm werden«. Erst geben sie auf die Fragen, wie
z.B. »bin ich arm oder reich?«, eine knappe direkte Antwort. Dann aber, wenn
mehrere Kinder eine Antwort gegeben haben, entstehen neue, andere forschende Meinungen dazu. Dabei braucht es meistens nicht mal die Rückfragen von uns Referierenden. Die Kinder bauen ihren Diskurs Schicht für Schicht selber auf und beziehen sich aufeinander. So wurde aus dem Konsens, dass man die Frage der Postkarte zum Thema »arm oder reich« eigentlich gut mit »mittel« beantworten könnte, in alle Richtungen weitergedacht.
»Jemand, der zum Arzt muss, ist manchmal ganz schön arm dran«, hieß es dann oder »man ist reich, wenn man mit anderen gut umgehen kann«. »Ich fühle mich reich, weil ich
habe meine Familie im Herzen«, oder »ich bin arm, weil ich nicht bei meiner
Mama bin«, teilten uns die Grundschulkinder ganz offen mit.
Sehr viel Anklang fand auch in dieser Woche wieder unser Buch »Der böse Kern«, das durchweg in allen Altersklassen im Grundschulbereich zu ganz spannenden Gedanken führt. Es ist immer faszinierend für die Kinder, den Begriff »böse« zu betrachten, der oft auch lässig im Sprachgebrauch verwendet wird, eigentlich aber schwer zu fassen ist.
Ist derjenige böse, der Böses tut? Irgendwie funktioniert das so einfach nicht, meinte ein Schüler. »Wenn man einem Dieb ein Bein stellt, hat man gleichzeitig etwas Gutes und etwas Schlechtes gemacht!«
Wie man überhaupt ist, wenn man böse ist und ob man von jemandem sagen kann, dass er oder sie immer böse war, das hat auch durchaus zu Streitigkeiten in den Gruppen geführt. »Wenn man geboren wird, ist man erstmal normal« und »Kinder sind ja erstmal nett, aber dann hören sie böse Wörter«, überlegten zwei Viertklässlerinnen, worauf ihr Mitschüler vehement antwortete: »Es gibt auch 100% böse Menschen, wie Putin und Voldemort!«
Schon ist man ganz tief in das Thema »Identität« eingetaucht, unter dessen Zeichen ja das »Gedankenflieger-Jahr« 2022 stand. Wir sprachen über die Wahrnehmung, die andere von einem haben, was manchmal von dem Bild, das wir von uns selbst haben, abweichen kann. Sehr schön auf den Punkt gebracht durch die Aussage: »Manche, die sich mit mir gestritten haben, denken, ich bin böse. Aber ich denke, ich bin lieb.«
Dass vielleicht das Böse in jedem stecken könnte, aber nur unterdrückt wird oder erst später ein Ventil findet, davon waren viele Kinder überzeugt. Aber auch davon, dass denen, die schlimme Sachen erleben, das Liebsein einfach schwerer fällt. Sehr ergreifend formulierte das eine Schülerin bei unserer Buchbesprechung. Als wir die Buchseite ansahen, auf der der böse Kern nach seinem Sturz von der Tribüne ganz geschunden und angeknackst zu sehen ist, sagte sie:
»Durch das Loch in seinem Kopf ist die Liebe aus ihm rausgefallen. Nur das Böse konnte sich halten.«
Wer bin ich? Wie bin ich? Was bin ich? Diese Cover-Fragen unseres Magazins spielten auch immer wieder eine wichtige Rolle. Wieder etwas, dass so einfach zu beantworten scheint, bis man tiefer und tiefer gräbt. Häufig haben wir Gedanken, die zu Beginn unseres Gesprächs aufgeworfen wurden, zum Ende hin noch mal aufgegriffen, um die Wirkung der Bücher und des Diskurses sichtbar zu machen.
Dass wir alle einzigartig sind und ganz besonders in dem, was uns ausmacht, das wurde in jeder Runde von den Grundschulkindern bestätigt. Warum es dann so viel Hänselei gibt und Streit? Eigentlich unnötig, so die Meinung eines Drittklässlers. »Ich habe gelernt, dass man die Menschen sehen muss, wie sie halt sind.« Und auch für diejenigen, die noch Schwierigkeiten damit haben, zu ergründen, wie sie eigentlich sind, hatte eine Schülerin einen wunderbaren Satz parat: »Ich finde, wenn man wissen will, wie man ist, dann muss man tief in
seine Seele fühlen und eine Leidenschaft finden.«
Das Philosophieren mit Kindern ist definitiv so eine Leidenschaft für mich! Ganz glücklich blicke ich auf diese ersten Monate »Gedankenflughafen Rostock« zurück, die tolle Überlandtour und die vielen fantastischen Veranstaltungen bei uns im Haus oder der Stadtbibliothek Rostock. Ein großer Dank an all diejenigen, die teilgenommen haben, mich bei den Flügen unterstützt haben und die vielen wunderbaren Menschen, die uns ihren Raum und ihre Zeit so hingabevoll zur
Verfügung gestellt haben.
Jetzt schaue ich ganz vorfreudig auf das neue »Gedankenflieger-Jahr« und natürlich auch auf unsere erste Rostocker Fortbildung im Mai. Ich freue mich schon riesig auf die Orte, an die uns die »Gedankenflüge« führen werden. Der Koffer ist voller ungeklärter Fragen, vielleicht warten die Antworten ja schon irgendwo darauf, eingesammelt zu werden?
Und wenn mal eine Frage aufkommt, die so groß ist, dass sie seit hunderten von Jahren nicht geklärt werden kann, dann wissen wir zumindest ganz eindeutig, dass wir philosophieren und
unsere Gedanken keine Schranken haben! Und so schließe ich mit der uraltbrandneuen
Frage einer Drittklässlerin aus Ludwigslust: