7. Februar 2021

Buchtipp: »Der Wal im Garten«

von Sabine Rufener, Kunstanst!fter Verlag, Mannheim 2021

»Ein Bilderbuch zu machen, bedeutet Geschichten zu finden, bedeutet viel Zeit, Unsicherheit und Glücksgefühle«,

sagt die Schweizer Bilderbuchautorin Sabine Rufener.

 

Glückliche Verunsicherung – dies beschreibt gut, was das in Form und Inhalt außergewöhnliche Bilderbuch »Der Wal im Garten« auszulösen vermag. Denn in dieser Geschichte zwischen einem unvermittelt im verwunschenen Garten der Großmutter gestrandeten Wal und dem Mädchen Lille entwickelt sich die Geschichte einer Annäherung zwischen Ungleichen mit so viel Poesie, Ausdrucksstärke und Schönheit, dass es einem beim Lesen den Atem raubt.

 

Erst einmal ist der riesige Wal ein ebenso riesiges Problem für Lille: Er hat mit seiner Masse ihr Fahrrad zerdrückt.

 

»Da wusste sie, dass sie heute zu spät zur Schule kommen würde.«

Aber dies ist nicht das einzige Problem: der Wal ist kein freundlicher Riese, sondern ein mürrischer, oft schlecht gelaunter, lauter und besserwisserischer Geselle, der den Ernst seiner Lage leugnet. Doch ganz langsam beginnen die beiden, sich einander anzunähern. Lille nimmt das Tier mit seinen Eigenarten an und denkt sich gemeinsame Spiele aus. Parallel zur Freundschaft wächst des Wales Sehnsucht nach dem Meer, ja, die Sehnsucht »frisst ihn auf« – bis er zu schrumpfen beginnt und eines Tages in Lilles Wassereimer passt und sich von ihr zurück ins Meer tragen lässt. Zurück bleibt Lille – mit mehr Fragen als Antworten, trotz gemischter Erfahrungen und Erinnerungen erstaunt, beglückt und wehmütig.

 

Dieses Bilderbuch lebt von seinen Gegensätzen: dem riesigen Wal und dem kleinen Mädchen (»Lille« bedeutet »klein«), dem kargen Text und der ausufernden Schönheit seiner Bilder.

Sabine Rufener arbeitet mit verschiedenen Drucktechniken, Collage und Frottage, mit Farbstiften und Tusche sowie unterschiedlichsten Materialien. Jede Doppelseite hat eine eigene gedeckte Grundfarbe, in die hinein die Szenen aus oft ungewöhnlichen Perspektiven komponiert sind. So kommt es zu verwunschenen Momentaufnahmen und großartigen Darstellungen von Erde und Wasser, Schatten und Licht.

 

Sabine Rufeners Kunst besteht darin, diese Gegensätze in Illustration und Inhalt nicht zu harmonisieren, sondern den Kontrast als Mittel einer beglückenden Verstörung zu nutzen und Gegensätze gleichwertig nebeneinander stehen zu lassen. Wo Nähe wächst, bleibt auch der Wunsch nach Distanz, wo Ankommen glücklich macht, darf auch die Sehnsucht nach dem Gehen wachsen.

 

»Der Wal im Garten« ist das erste Bilderbuch der 1972 geborenen Illustratorin und Autorin. Ein zweites Bilderbuch ist bereits im Entstehen. Es handelt von einem kurzsichtigen, aber weitherzigen Mädchen und einem lebensmüden Hund. Darauf freuen wir uns jetzt schon.

 

Geeignet für Kinder ab 4 Jahren zum Lesen, Betrachten, Philosophieren, zur Sprach- und Wahrnehmungsförderung, zum Fantasieren und Nachdenken und Entwickeln eigener Kreativtechniken.