13. April 2023

Zwischen Klieken und Sieglitz

»Gedankenflieger« on tour mit Wiebke Fötsch und Ulrike Jänichen!

Im Oktober 2022 starteten wir vom Flughafen Leipzig aus in die zweite »Gedankenflieger«-Saison.

Ziel in diesem Jahr war es, »Gedankenflieger« in die ländlichen Regionen Sachsens und Sachsen-Anhalts zu tragen und möglichst vielen Schulen eine Teilnahme zu ermöglichen.

Neben dem Angebot an Veranstaltungen im Literaturhaus Leipzig fuhren wir also zum »Gedankenfliegen« in die Schulen.

Mit Rad und Bahn waren wir für ca. 20 Veranstaltungen von Oktober bis Ende Februar zwischen Sieglitz und Klieken unterwegs. An jeder Schule fanden jeweils zwei Veranstaltungen mit unterschiedlichen Klassen statt. Diese Möglichkeit wurde von den Schulen sehr dankend angenommen und so konnten wir viele Kinder im ländlichen Raum erreichen, denen eine Teilnahme an »Gedankenflügen« sonst nicht möglich gewesen wäre.

 

Unser Jahresthema »Identität« schien für alle Kinder anfangs ein fremder Begriff zu sein. Die Fragen dahinter nach dem »Wer, wie und was bin ich?« führten uns aber direkt zum ICH. Und wo ICH bin, da gibt es ein DU auf dem Weg zu einem WIR. Was kann das ICH vom DU über sich selbst erfahren? Und braucht es für die Frage nach dem ICH auch immer ein Gegenüber, ein WIR? Was macht mich aus? Was verbindet uns?

Wir starteten in der Grundschule »Stadtmitte« in Zeitz mit der Erkenntnis: »Wir sind alle Menschen!« Aber: »Was ist der Mensch? Was braucht der Mensch zum Glücklich-Sein?« Berührend und scheinbar einfach waren die gemeinsamen Antworten: »Andere Menschen, die ich liebe, Geborgenheit und etwas zu Essen.«

Im Verlauf der Veranstaltungen zeigte sich schnell, wie sehr der gemeinsame Stuhlkreis (im Gegensatz zur klassischen Sitzbankordnung) das gegenseitige Zuhören, das wechselseitige Aufeinander-Eingehen und damit die aufmerksame Gesprächsatmosphäre positiv beeinflusst.

Darüber hinaus wurde deutlich, wie das Arbeiten mit Bilderbüchern lebensweltferne, theoretische und ungewohnte Themen für die Kinder greif- und denkbar macht. Gerade offene, den Kindern vielleicht auch unvertraute Bildsprachen ließen Raum zum Reflektieren und Weiterdenken. So ein Zitat zum Buch «Goliath«:

 

»Ich mag die Geschichte, weil sie ausgedacht ist. Da kann man sein Eigenes noch dazu tun.«

(Alex, 8 Jahre)

 

An der Grundschule »Im Rosenthal« in Merseburg wurden wir besonders dankbar empfangen, denn aus personellen Gründen kann an der Schule im Moment kein Ethikunterricht stattfinden. Die Begeisterung der Kinder war groß und wir hätten noch weit über unsere 90 Minuten hinaus mit den Kindern philosophieren können.

Nicht nur an diesem Tag erlebten wir die bedrückende personelle Situation an vielen Schulen, deren Lehrkräfte trotzdem sehr engagiert versuchen, alle Lehrpläne und Aufgaben des Alltags zu bewältigen und gleichzeitig ihren Schülerinnen und Schülern einen vielfältigen Unterricht anzubieten.

Die »St. Franziskus Grundschule« in Halle hat es zwei ihrer 4. Klassen aus eigenen Mitteln ermöglicht, uns einzuladen. Erstaunlich war, wie sehr der gemeinsame Austausch zu philosophischen Fragen den Kindern bereits vertraut war. Auch abstrakte Fragen und Begriffe konnten sie mit ihrem eigenen Erfahrungshorizont verbinden:

 

»Wenn ich mich nicht wohl fühle, ist das ICH trotzdem bei mir, aber es versteckt sich, es hat Angst, dass etwas Böses passiert.«

(Charlotte, 10 Jahre)

 

Zwei 2. Klassen erwarteten uns an der Grundschule »Am Park« in Wulfen. Mit der Frage »Wer bin ich?« und dem Bezug zum eigenen Namen dachten wir gemeinsam darüber nach, was der Name mit dem Ich zu tun haben könnte. Damit gelang es uns sehr gut, an die Lebenswelt der Kinder anzuknüpfen.

In der Grundschule in Klieken erlebten die Kinder anhand einer einfachen Zeichnung, die vor ihren Augen Strich für Strich an der Tafel entstand, dass Wahrnehmen und Deuten individuell geprägte Prozesse sind. Bildhaft und nahezu selbstverständlich wurden die Kinder hier in die Situation versetzt, ganz unterschiedliche Vorstellungen und Meinungen nach zu empfinden und zu akzeptieren.

Zwar sind die Kinder aus dem Schulalltag meist gewohnt, Antworten zu geben bzw. von den Erwachsenen die richtige Antwort zu bekommen. Doch wenn wir von Sokrates und seinen philosophischen Gesprächen erzählen, laden wir die Kinder ein, selbst Fragen zu stellen. Im philosophischen Gespräch sind wir alle die Fragenden, egal ob groß oder klein. Und Antworten gibt es nie nur eine, sondern viele – jenseits von richtig oder falsch.

Mit dem Buch »Ich bin wie der Fluss« spürten wir in der Grundschule in Büschdorf der Bedeutung von Begriffen und dem Klang unserer Sprache nach:

 

»Wenn ich ein Wort oft hintereinander sage, dann frage ich mich, wieso etwas so heißt.«

(Max, 9 Jahre)

 

Wie ist es, wenn ich mich nicht ausdrücken kann, weil die richtigen Worte fehlen? Welche Bedeutung hat Sprache für mich und mein Verhältnis zu den Anderen?

Die Kinder setzten mit ihren Fragen zum Buch »Goliath« den Fokus auf die eigene Kraft und die daraus entstehenden Möglichkeiten:

 

»Damit ICH das geschafft habe, musste das SELBST sich anstrengen.«

(Paula, 9 Jahre)

 

»Die Weisheit kann aufhören, wenn wir uns keine Fragen mehr stellen.«

(Basti, 10 Jahre)

 

An der »Kastaniengrundschule« in Köthen starteten wir mit dem Experiment »Eine-Minute-Gedanken-Fliegen-Lassen«. Im anschließenden gemeinsamen Gespräch stellten wir staunend fest, was für unendliche Möglichkeiten dem Denken innewohnen:

 

»Wenn du zwei Dinge siehst und die zusammenfügst mit den Vorstellungen und daraus dann etwas Neues machst, das sind die Gedanken.«

(Marwin, 10 Jahre)

 

Die letzte Reise führte uns nach Sieglitz an die Grundschule »Thomas Müntzer«. Besonders in der 4. Klasse war beeindruckend, wie gut die Gruppe aufeinander eingehen und miteinander diskutieren konnte. Ein besonderer Moment entstand, als ein Junge eine sehr persönliche Aussage über sich bekannt gab, die alle anderen so nie erwartet hätten: »Ich bin ängstlich.« In diesem geschützten Raum fand auch Olivia den Mut, sich vertrauensvoll mitzuteilen:

»Ich wollte so nicht genannt werden. Ich wollte doch keine Prinzessin werden! Nur weil ich rosa toll finde.«

 

Sehr oft melden uns die Lehrerinnen und Lehrer nach den Veranstaltungen zurück, dass sie ihre Schüler und Schülerinnen auf eine ganz neue Art und Weise kennengelernt haben.

Wir können mit unseren Veranstaltungen nur punktuell auftreten und brauchen den Kontakt zu den Klassen- und Fachkräften, damit unsere Arbeit nachhaltig werden und das Philosophieren auch im Alltag ankommen kann.

Trotz der benannten Hürden konnten wir viele begeisterte Pädagogen und Pädagoginnen treffen, die unsere Anregungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit in ihren Unterricht nahmen und das Magazin weiter nutzten. Das eindringlichste Feedback dazu bekamen wir aus Köthen, wo uns ein Zeitungsartikel mit folgendem Kommentar der Direktorin erreichte:

 

»…herzlichen Dank noch einmal für die beiden Veranstaltungen. Die Kinder und wir waren so begeistert. Deshalb luden wir die Presse ein und stellten das Projekt vor … auch in den nachfolgenden Stunden arbeiteten die Kinder mit Feuereifer am Thema mit dem Magazin.«

 

Die Nachfrage nach unseren Veranstaltungen ist groß. Vielen Schulen mussten wir im vergangenen Jahr absagen bzw. sie auf die nächste Saison vertrösten. Gleichzeitig würden sich alle besuchten Schulen über ein Wiederkommen freuen.

Bei all dem müssen wir aber den Bedingungen des Systems Rechnung tragen und auf die gegebenen Strukturen zugehen, wenn wir auch die Kinder im ländlichen Raum erreichen wollen. Ein Besuch im Literaturhaus in Leipzig ist für die meisten Schulen in der derzeitigen Situation meist weder finanziell und vor allem personell nicht zu bewältigen.

Doch die Erfahrungen des letzten Jahres, die Reaktionen der Kinder und der Austausch mit Lehrern und Lehrerinnen hat uns gezeigt, wie wichtig unsere Arbeit ist, insbesondere in den Orten, die das kulturelle Angebot der größeren Städte kaum nutzen können.

 

Wir bedanken uns bei allen Schulen, bei den Pädagoginnen und Pädagogen und natürlich bei den Kindern. Wir freuen uns schon auf die kommende Saison!

 

Wiebke Fötsch