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22. November 2025

Zu Besuch in der freien Schule Emden

sind Stefanie Segatz und Anne Jaspersen.

Emden zeigt sich im November von seiner nasskalten Seite – wir wollen mit insgesamt drei Lerngruppen einer freien Grundschule die Gedanken zum Fliegen bringen und damit das eigenständige Denken anheizen. Was uns wohl erwartet?

 

In jedem Fall ein herzliches Willkommen und überraschenderweise ein Axolotl – ein mexikanischer Schwanzlurch also, der hier als Haus- bzw. Schultier für Entspannung sorgen und die Beobachtung schulen soll. Nach dieser ersten unerwarteten Bekanntschaft geht es los mit dem Philosophieren zum Thema »Was bedeutet Mut?«.

Den Kindern beider Lerngruppen fällt sofort viel ein. Besonders die nahe gelegene Friesentherme kennen die Grundschüler gut als einen Ort, in dem Mut-Erfahrungen gesammelt werden können, sei es beim Erklimmen eines Sprungturms, beim Versuch eines ersten Saltos oder einfach beim Schwimmenlernen. Mut kann sich also darin zeigen, ein Wagnis mit unbekanntem Ausgang einzugehen, sich etwas Neues zuzutrauen oder durchzuhalten, wenn es schwierig und anstrengend wird. »Aber dann ist es ein tolles Gefühl«, erzählt Henri. Wie immer beim Philosophieren mit Kindern gibt es hier keine richtige oder falsche Antwort, sondern es stehen viele Gedanken und Erfahrungen nebeneinander und befruchten sich gegenseitig. Wir entdecken Gemeinsamkeiten und interessieren uns für Unterschiede. Erstaunlich, wie gut viele Kinder sich gegenseitig zuhören und schnell den Mut fassen, selbst einen Gedanken oder eine Erfahrung zu teilen.

 

Wir nehmen den Aspekt auf: Ist Mut also ein Gefühl? Wo spüren wir ihn? »Im Herzen«, ist sich Aylina ganz sicher, denn sie fühlt manchmal ihr Herz klopfen, wenn sie etwas ängstlich ist und Mut braucht. Auch Angst (für viele Kinder der bekannte Gegenspieler von Mut) ist ja ein Gefühl. »Mut bedeutet aber nicht, keine Angst zu haben, sondern sich ihr zu stellen«, differenziert Jonathan.

Sich seiner Angst zu stellen und mutig zu sein, kann eine ganz bewusste Entscheidung sein – etwa dann, wenn man sich ein Ziel gesetzt hat und es auch erreichen will. So wie Thies, der sich nicht mehr vor Spinnen fürchten wollte und dies durch wiederholte genaue Beobachtung und Wissen über diese nützlichen Tiere geschafft hat. Kann man Mut also auch einüben? Thies nickt: »Ich habe es selbst erlebt!«

 

Wir halten die Gedanken der Kinder auf einem Plakat fest, so dass im Werte- und Normenunterricht noch einmal darauf eingegangen werden kann. Nach so viel gemeinsamer Denkarbeit tun eine kleine Bewegungsübung und eine spielerische Einheit gut, die allen Kindern Spaß macht und zu unserer Bilderbuchbetrachtung hinführt. Wir erweitern das Vorstellungsvermögen, indem kleine versteckte Gegenstände wie etwa ein Stein, eine Maske oder eine Glühbirne mit dem Thema »Mut« in Beziehung gesetzt werden sollen.

»Ein Stein ist schwer und manchmal ist es auch schwer, mutig zu sein«, fällt etwa Ida ein. Zur Maske sagt Mika: »Oft gehört Mut dazu, sein wahres Gesicht zu zeigen. Eine Maske kann schützen oder auch Mut machen.« »Es kann aber auch mutig sein, eine besonders hässliche Maske aufzusetzen«, ergänzt Nick lachend.

 

Mit der anderen Lerngruppe üben wir uns in Empathie und versetzen uns in Tiere hinein, denn wir wollen zu dem Bilderbuch »Der Löwe in dir« philosophieren. Was macht einen Löwen mutig, was eine Maus? Wozu könnte ein Bär Mut gebrauchen, und warum könnte eine Spinne mutig sein? Die Gedanken sprudeln, und wir denken an den Axolotl im Klassenzimmer nebenan, den Verweigerer der Metamorphose.

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Schon das Verdunkeln des Raumes erhöht die Spannung. Den Bilderbuchgeschichten lauschen die Grundschulkinder gebannt. Sowohl in dem Buch »Frida furchtlos lädt zum Tee« als auch in dem Bilderbuch »Der Löwe in dir« erkennen wir Aspekte des bereits Gesagten und Notierten wieder und können sie nun in Beziehung zur Geschichte setzen. »Frida Furchlos« etwa lädt nicht nur zum Tee ein, sondern auch zur Sprachförderung und dazu, das offene Ende weiter zu spinnen. Wie könnte die Geschichte wohl weiter gehen? Stürmt der Drache das Haus, schwebt die nicht ganz freiwillige Teerunde in Lebensgefahr? Matthes hat eine Idee: »Viele Saurier waren doch Pflanzenfresser. Der wird ins Haus kommen und den ganzen Kuchen verputzen!« Wer weiß … so vieles ist möglich beim »Gedankenfliegen«!

 

Das »Gedankenflieger«-Magazin schließt mit kleinen Aufgaben direkt an das Vorangegangene an. Die ganz junge Lerngruppe malt in bunten Farben Situationen, in denen sich die Kinder klein wie eine Maus gefühlt haben oder groß und wirkungsmächtig wie ein Löwe. »Wenn ich etwas geschafft habe«, lesen wir da etwa zum Thema Mut oder »Wenn ich von anderen ausgelacht werde«, zum Thema Angst.

Die ältere Lerngruppe beschäftigt sich nach dem Weitererzählen der Bilderbuchgeschichte mit unserer Eingangsdoppelseite und horcht noch einmal in sich hinein: Was macht mir Mut? Was habe ich mich noch nicht getraut, würde es aber gerne einmal machen? Was war meine bislang größte Mutprobe? Wie kann ich andere ermutigen, wer ermutigt mich? Fast alle Kinder fassen den Mut und erzählen abschließend in der Runde, zu welchen Antworten sie gefunden haben und welche Fragen noch offengeblieben sind. Wie gut, dass unsere Magazine in der Schule verbleiben und dort weiterhin den Werte- und Normen-Unterricht begleiten werden.

 

Am zweiten Tag in Emden erreichen wir das provisorische Schulgebäude im Dauerregen und freuen uns im Trockenen auf die vielfältigen Gedanken, die die Lerngruppen fünf und sechs zum Thema Mut in den Raum prasseln lassen. Sehr aufmerksame zehn- bis zwölfjährige Kinder finden, dass es mutig ist, die eigene Angst zu überwinden, dass es dafür Selbstvertrauen braucht und dass es im Auge des Betrachters liegt, wofür man mehr oder weniger Mut braucht, denn: Jeder Mensch ist anders. Was für den einen eine große Überwindung bedeuten kann, mag für jemand anderen möglicherweise ein Kinderspiel sein. Entsprechend unterschiedlich wird also der menschliche Mutbedarf empfunden und ist deshalb auch nicht vergleichbar, überlegt Lennox.

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Trotzdem weiß Isabella aus eigener Erfahrung, dass man Mut lernen kann, indem man zum Beispiel die eigene Höhenangst überwindet. Sie selbst brauchte dazu allerdings erst einen triftigen Grund: Als eine Freundin von ihr in einem Kletterpark in schwindelerregender Höhe nicht vor- oder zurückkam, hat sie sich ein Herz gefasst, ist zu ihr geklettert und hat ihr geholfen. Seitdem klettert sie richtig gerne, ganz ohne Höhenangst. Sitzt die Angst also vielleicht manchmal im Kopf?

 

»Mut kommt jedenfalls aus dem Herzen«, meint ein eher schüchternes Mädchen, das in unserer Fühlkiste mutig nach einem Kompass greift. Und der Kompass? Was der wohl mit Mut zu tun hat? »Um den eigenen Weg zu finden, braucht man ganz schön viel Mut«, lächelt sie leise und einige Kinder nicken.

Als aus der Kiste eine Spritze gezogen wird, sprudeln die unterschiedlichsten Mutgeschichten nur so hervor. Und auch ein kleines Musikinstrument bringt spannende Muterfahrungen zutage. In beiden Fällen stellen mehrere Kinder fest, dass sie sich im Laufe der Zeit an Dinge gewöhnt haben, vor denen sie anfangs große Angst hatten und viel Mut brauchten, um sie auszuhalten. Blut abnehmen zum Beispiel. Oder eben auf der Bühne stehen und vor vielen Menschen etwas vortragen. Sobald man Dinge regelmäßig tut, lässt die Angst davor offenbar nach und man braucht entsprechend weniger Mut.

 

In dem Buch »Frida lädt zum Tee« ist es genau anders herum. Die Gans Frida erlebt ganz neue Begegnungen, hat jedoch keine Angst, weil sie zu anderen Tieren bisher keinen Kontakt hatte und deshalb nichts Böses von ihnen erwartet. Sie lädt den Wolf, den Bären und den Löwen also einfach zum Tee ein. Ist das mutig? Oder naiv? Und worüber würden sich die Tiere wohl unterhalten in so einer ungewöhnlichen Situation?

 

Die Kinder sind einfallsreich und bringen im Magazin lustige Tiergespräche zu Papier, die sie am Ende amüsiert vortragen. Wunderbar! Und wir bedanken uns ganz herzlich für intensive Tage in Emden, die uns noch lange in Erinnerung bleiben werden. Durch große Pfützen hindurch verlassen wir diese freie Schule im Aufbau, mit nasskalten Füßen und warmen Gedanken.

 

Stefanie Segatz und Anne Jaspersen