26. Juni 2024

Mut-Tour im Landkreis Lüneburg, Teil Eins

mit Stefanie Segatz und Inga Faust.

Gespannt erwarten uns am Montagmorgen die »Frösche« der Grundschule Hohnstorf. Bevor wir loslegen, wird noch das Morgenritual durchgeführt, Leni darf das Kind des Tages sein. Nun wissen wir alle ganz genau, dass heute Montag, der dritte Juni ist, dass die Uhr 5 Minuten nach 8 zeigt, das Wetter heute leicht bewölkt ist und noch 162 Schultage vor uns liegen. Eine tolle gemeinsame Orientierung in Raum und Zeit als Ausgangspunkt!

 

Dann geht es los und die »Gedankenflieger« übernehmen. Beim Beschriften der Namensschilder führen wir erste kleine Gespräche, bevor wir uns dann kurz vorstellen und Inga Faust die Veranstaltungsleitung übernimmt. Nachdem wir uns mit dem Begriff des Philosophierens beschäftigt haben, stellen wir den Erstklässlern die philosophische Frage: »Was bedeutet Mut?«

»Mut ist einfach ein Gefühl, das sich gut anfühlt«, meint Elias. Mut hat aber auch mit Angst zu tun, und das fühlt sich gar nicht gut an. Manche Kinder in dieser ländlichen Gegend haben Angst vor einem Stromzaun, der die Tiere sichert, Till hat schon einmal eine Schlange angefasst und Erik hat sich getraut, vom 5-Meter-Turm zu springen. So viele Muterfahrungen!

 

Auf dem Boden breitet Inga unterschiedliche Gegenstände aus: eine Taucherbrille, eine Taschenlampe, eine kleine Spinne und eine Supermanfigur. Was haben diese Gegenstände mit Mut zu tun? »Ich habe schon einmal eine Spinne über meine Hand krabbeln lassen und brauchte dafür Mut!«, berichtet Elias. »Wenn es dunkel ist, kann man die Taschenlampe nehmen, und dann ist das Monster weg!«, sagt Erik.

Eine wunderbare Überleitung zu unserer Bilderbuchgeschichte »Dunkel« von Lemony Snicket, die Inga jetzt vorliest. Gespannt verfolgen die Kinder die Bilder im Bilderbuchkino. »Warum hat das Dunkel Leo die Glühbirne gegeben?«, fragt Inga. »Damit er lernt, sich selber zu helfen!«, antwortet Leni. Alle Kinder sind sich einig, dass es sich für Leo gelohnt hat, mutig zu sein.

Im Magazin spüren wir mit der Frage »Wo spürst du deinen Mut?« weiter dem Mut nach. Bei manchen sitzen Mut und Angst an derselben Stelle, bei anderen haben sie ganz unterschiedliche Farben und Positionen. Wer sich traut, darf seine Ergebnisse und Erfahrungen mit der Runde teilen. Das Daumenfeedback mit geschlossenen Augen zeigt, dass fast alle Kinder sich heute einmal mutig gefühlt haben und neue Gedanken zum Thema »Mut« hatten. Das freut uns sehr!

Schnell wechseln wir den Standort und fahren an die Außenstelle Echem. In dem hellen und modernen Gebäude erwartet uns die Klasse 2e. Wieder beschriften wir Namensschilder. Dabei fällt auf, dass überraschend viele Kinder ihre Pause in der Bibliothek verbracht haben. Wir stellen die »Gedankenflieger« kurz vor und klären den Begriff des Philosophierens. »Weise zu sein bedeutet, bedeutende Sätze zu sagen«, meint Vito. Zum Fragen schauen die Kinder gerne in Bücher, »aber man kann auch die Erde befragen, zum Beispiel mit einem Stein. Wenn man den öffnet, kann man in die Vergangenheit schauen.«

Die philosophische Frage »Was bedeutet Mut?« wird von Edda sofort beantwortet: »Angst ist Mut!« Aber wie kann das sein, wenn Angst doch vielleicht auch das Gegenteil von Mut ist? »Man kann Angst davor haben, mit der Achterbahn zu fahren, aber der Mut bringt einen dazu, dass man es trotzdem macht«, meint Rieke.

Beim Ziehen der Zettel aus dem Tontopf machen wir uns gemeinsam weitere Gedanken zum Thema Mut. Kann man Mut lernen? »Man kann Mut lernen, so 2 oder 3 Prozent«, schätzt Vito. Auf die Frage »Wen findest du mutig?« antwortet Edda, dass sie ihren Vater mutig findet, der in einem Krankenhaus arbeitet. »Da sind so komische Menschen und er hält das aus.«

Auch Rieke meldet sich. »Ich finde mich mutig, weil mein Vater letzte Woche gestorben ist und ich das aushalte.« In solchen Momenten stockt der Atem und ich bin froh, in den vielen Jahren bei den »Gedankenfliegern« gelernt zu haben, auf Situationen wie diese vorbereitet zu sein.

Zumal jetzt noch mehrere Wortmeldungen kommen und es sich zeigt, dass es in dieser Klasse eine Häufung tragischer Unglücksfälle gibt. So haben zwei Kinder bereits ihre kleineren Geschwister verloren und ein Kind erlebt gerade sehr nah mit, dass die Großeltern im Sterben liegen. Mein Bemühen ist es, den Kindern das Gefühl zu geben, dass sie mit ihren Gefühlen und Gedanken gut bei uns aufgehoben sind, dass wir ihnen zuhören und sie sehr ernst nehmen, und dass wir dann trotzdem versuchen, die Gefühlsebene nicht zu verstärken, sondern durch den geweiteten Korridor der Themenstellung führen.

 

Die Bilderbuchgeschichte von Tina tut uns allen gut und sorgt dafür, dass wir neue Bilder in den Kopf bekommen. Im Magazin fragen wir uns, wer uns Mut macht – Tina hat Poppy, wen hast du? Und auch sind die Verstorbenen sofort wieder präsent. Ob es Meeri im Rollstuhl ist, die kleine verstorbene Schwester, die dennoch ein Vorbild ist und ihre große Schwester zum Leben ermutigt. Aus der Klasse 2e verabschieden wir uns mit großem Respekt.

Am Dienstag führt uns unser Weg früh nach Soderstorf. Dort besuchen wir zwei Klassen. Alle wissen Bescheid, dass die »Gedankenflieger« heute kommen und unser Banner, sowie der Aufsteller des Literaturbüros Lüneburg sorgt auch gleich für Gesprächsstoff in der zweiten Klasse. »Literatur – das klingt, als würden wir über 1000 Dinge reden.«, sagt Lewin.

Doch wir wollen auch wissen, was denn eigentlich dieser Begriff Philosophie sein könnte, den wir ebenfalls mitgebracht haben. Gustav merkt sofort: »Ich hab‘ so viele Mitschüler, die sprechen alle rumänisch, aber dieses Wort hab‘ ich noch nie gehört!«

Wir beginnen also, kleine und große Fragen gegenüberzustellen und merken schnell, dass sich eigentlich alle in der Klasse regelmäßig Dinge fragen, die sie sich alleine nicht beantworten können. »Wenn ich irgendetwas wissen will, setze ich mich meist raus in die Sonne und denk‘ nach«, verrät Lewin.

 

Nach einem kleinen Raumwechsel landen wir auch beim Mut – unserem Jahresthema, zu dem Stefanie ihr 1000-Dinge Glas mitgebracht hat. Im ersten Moment sind viele Kinder überzeugt davon, dass nur wenige der Gegenstände zu Mut passen. Am Ende wurden sie alle in die Hand genommen und mit Gedanken versehen. So sagt Frieda zum Beispiel: »Die Giraffe ist mutig, weil sie vom Aussterben bedroht ist.« Und Emilia kommt anhand einer Königsfigur der Gedanke: „»ch finde vom König die Diener mutig, weil die immer Angst haben müssen, dass der König böse wird, wenn sie was kaputt gemacht haben.« Die Sache mit der Angst ist auch hier kaum zu trennen von diesem Gefühl, dieser Entscheidung, Mut aufzubringen. Viele haben sich im Heidepark schon einiges getraut, oder hadern noch mit dem höchsten Sprungturm im Schwimmbad.

 

Gemeinsam schauen wir uns »Spriedel« an. Wer ist hier eigentlich besonders mutig? Der Spatz, der sich als erstes was Neues traut? Die Krähe, die dazu nein sagt? Oder die Taube, die versucht, zu schlichten? Schwierig zu sagen, finden die Kinder der zweiten Klasse. Etwas Neues kann ja toll sein, oder aber es macht alles schlechter. Aber als schließlich alle Tiere im Buch gemeinsam Spaß daran finden, ihre neue grenzenlose Ausdrucksweise zu genießen, ist auch die Klasse begeistert. So fällt es nicht schwer, im Magazin eigene Fantasie- und Quatschrufe zu erfinden. Zum Abschluss dürfen diese Wörter mit einer passenden besonderen oder albernen Bewegung laut gesagt werden. Und auch dabei gibt es keine Scheu – fast alle Kinder wollen nach vorne kommen. Ein ganz schön mutiger Morgen in Soderstorf.

Auch in der dritten Klasse kommt unser erstes Gespräch zum Thema Mut schnell mit dem Begriff Angst in Verbindung. »Angst und Mut haben beide auch mit dem Körper zu tun. Man kann z.B. zittern oder schwitzen«, bemerkt Leonie. Dass der Mut aber auch Übermut sein kann, weiß Jona: »Angst ist auch ein Schutz vor Leichtsinn«, bringt er an, woraufhin wir über Momente sprechen, wo es genau richtig war, dass wir ängstlich waren. Auf der anderen Seite kann es nun aber auch sehr aufregend sein, wenn etwas ein wenig Gefahr birgt.

Ich habe eine kleine Kiste mit Situationskärtchen mitgebracht. Sie ist mit einem Tuch verdeckt und ich frage, ob sich jemand traut, hineinzugreifen, oder jemand sich vor Schleimigem und Krabbeligem fürchtet. Einige Kinder sind so mutig, die Hand zu heben und zum Glück kommt nur ein Zettel zum Vorschein. Danach wollen natürlich alle hineingreifen. Was wäre, wenn im Schulbus die Kinder der ersten und zweiten Klasse nicht hinten sitzen
dürften, auch wenn sonst keine Plätze mehr frei sind?

Und was würdest du tun, wenn etwas, das dir gehört, hinter eine Absperrung gerollt ist, auf der »betreten strengstens verboten« steht? Diese Fragen aus der Kiste bringen uns zu ganz neuen Begriffen: Gerechtigkeit und Fairness. Die haben aber offensichtlich auch eine Menge mit Mut zu tun.

»Wenn etwas unfair ist und man das sagt, muss man auch mutig sein, weil man angemeckert werden kann«, sagt Emily. Widerspruch einlegen, eine Regel infrage stellen, das kann ziemlich mutig sein. Und dabei fragen wir uns auch, ob das überhaupt geht, dass etwas für alle gerecht ist. Ungerecht wäre es auf jeden Fall, wenn etwas nur für eine Person gut ist und für ganz viele andere dadurch nicht. Und genau diese Situation finden wir dann auch in unserem Buch »Hier kommt keiner durch« vor. Die Kinder sind erschrocken darüber, dass dieser Befehl durchgeführt werden soll und fiebern gleichzeitig spürbar mit dem Aufpasser mit, der in einer komplizierten Rolle zu sein scheint. So ist es auch nicht verwunderlich, dass nach Ende des Buches mit seinem euphorischen Ausgang der Aufpasser von der dritten Klasse zum mutigsten im Buch gekürt wird.

 

Mit dem Magazin kommen wir noch einmal zurück zu unserem ganz persönlichen Gefühl von Mut. Wann ergreift er mich? Und welche Farbe hat er eigentlich? Schwarz kann er sein, weil er in der Angst entsteht. Blau-weiß kann er sein, wie der Lieblings-Fußballverein. Aber manchmal ist er auch gelblich, fast so hell wie Licht, denn sich mutig fühlen kann sich anfühlen, wie ganz viel Sonne in uns drin.

 

Stefanie Segatz und Inga Faust