17. Dezember 2022

»Ich bin so schnell wie ein Tiger!«

Ein Erfahrungsbericht von der Grundschule Horn.

Es ist der 23. November 2022; 7.45 Uhr. Unsere Referentin Anne Jaspersen, Vera Klischan von der Stiftung Kinderjahre und ich (Sarah Steidl) stehen vor dem Schulbüro der Grundschule Horn im Rhiemsweg 61 und warten auf Katja Stein, unsere Ansprechperson an der Schule. Im Gepäck: Namensschilder, ein Literaturhaus-Aufsteller, 150 Exemplare unseres »Gedankenflieger«-Magazins und eine gute Portion Vorfreude auf die heute anstehenden zwei Gedankenflüge. Es ist der Auftakt an der Grundschule Horn; auch im Januar und Februar 2023 wird unser Team hier mit Schülerinnen und Schülern der dritten und vierten Jahrgangsstufe die Gedanken fliegen lassen.

 

Was es bedeutet, die Gedanken fliegen zu lassen, macht Anne Jaspersen wenige Minuten später zur Eingangsfrage unseres Besuches in der dritten Klasse von Frau Langer. Dazu nutzt sie den »Gedankenflieger«-Song. Und schnell ist klar: Wir sind in einer lebendigen Klasse »gelandet«, die große Freude an Musik hat, sich von den Bossanova-Rhythmen zum Mitsummen und -pfeifen eingeladen fühlt und offen und gespannt unserem Besuch begegnet.

 

Und auch wir freuen uns auf die kommenden 90 Minuten, haben uns schon viele Namen beim Verteilen und Erstellen der Namensschilder einprägen können und dutzende Fragen zu uns beantwortet. Doch jetzt geht es um die Frage nach der Identität. Denn mit diesem Thema sind die »Gedankenflieger« dieses Jahr unterwegs. Dank der Unterstützung der Stiftung Kinderjahre können wir neben den Veranstaltungen im Literaturhaus auch an der Grundschule Horn »landen«. Groß, klein, fröhlich, neugierig – was macht die Kinder aus?

Sarah Steidl

Über das Vorlesen und Zeigen einer zum Jahresthema ausgewählten Bilderbuchgeschichte werden die Kinder ermutigt, sich zu fragen, was sie auszeichnet. So auch in der 3a. Hier liest Anne Jaspersen aus »Roberta & Henry« vor. Glücklich ist die Giraffe Roberta nicht. Sie findet ihren Hals zu lang, zu fleckig, zu dünn. Vertuschen hilft nichts; sie fühlt sich entsetzlich unzulänglich. Bis sie eines Tages Henry trifft. Der findet ihren Hals wunderschön – und hat als Schildkröte ganz andere Probleme. Gut, dass Roberta helfen kann. Durch mitgebrachte Tierohren und die durch ein Würfelspiel initiierte Möglichkeit, sich selbst oder anderen Tierohren aufzusetzen, werden die Kinder animiert, etwas über sich oder andere zum Ausdruck zu bringen. Jerry wählt zögerlich und etwas unsicher die Tigerohren. »Hast du vielleicht etwas mit dem Tiger gemeinsam?«, fragt Anne Jaspersen den Drittklässler. »Ich bin so schnell wie ein Tiger«, sagt Jerry.

Das eifrige uns somit bestätigende Nicken seiner Mitschüler lässt Jerrys Brust breiter werden. Er und andere erzählen sofort von den vielen Fußballspielen und Sportveranstaltungen, bei denen Jerry mit Abstand der Schnellste war – man sprichwörtlich nur noch den Staub hinter ihm aufwirbeln sehen konnte. Durch die Tierohren konnte Jerry etwas über sich selbst sagen, hat Bestätigung und Sicherheit in seiner Selbstwahrnehmung erfahren. Schnell hat Anne Jaspersen in dieser Klasse durch ihre offene und haltgebende Form des Nachfragens eine Atmosphäre geschaffen, in der jeder etwas über sich sagen möchte.

»Interessant. Woher weißt du das so genau?« »Das finde ich spannend. Warum glaubst du dies und nicht jenes?« Die Anerkennung des Gesagten mit einer Überprüfung zu verbinden, macht deutlich, dass es oft mehr als eine Möglichkeit gibt, die Dinge zu sehen und zu beurteilen. Für die Schildkröte Henry ist das Treffen mit der Giraffe Roberta ein Glücksfall, denn sie kommt mit ihrem langen Hals an ebenjene Banane, auf die Henry schon seit Tagen schmachtend ein Auge geworfen hat.

 

Den Kindern fällt es durch die Bildergeschichte leicht, verschiedene Perspektiven auf sich selbst und andere einzunehmen. Vertiefende Fragen und Gedankenexperimente beflügeln das Gespräch im Stuhlkreis. Die Kinder werfen sich wie bei einem Ballspiel die Gedanken zu und sind dann ganz begeistert, als sie von uns das Gedankenflieger-Magazin erhalten und sich den dortigen Aufgaben zuwenden. Angeregt unterhalten sie sich, werfen anerkennende Blicke auf die Zeichnungen anderer. Ich selbst zeichne auch: Denn neben den Magazinen bleibt auch ein für den Gedankenflug angefertigtes Mindmap in der Klasse, das den Verlauf unseres Besuches ebenso festhält wie die vielen Fragen und Aussagen der Kinder.

Woran bin ich zu erkennen, und wie erkenne ich mich selbst?

 

»Ich bin meine eigene Spezies!«,

sagt die achtjährige Alexia.

 

2022 drehte sich bei uns alles um die »Identität« – ein Thema, was die Kinder in besonderer Weise angesprochen hat. Denn Grundschulkinder erleben in ihrer Schulzeit eine Phase intensiver Prägung: ihre Welt wird größer, sie werden immer selbstständiger und beginnen vielleicht sogar schon sich selbst in sozialen Medien darzustellen.

 

Wie spannend und notwendig ist es da, einen Blick auf sich selbst zu werfen und sich gemeinsam all die Fragen zu stellen, die ein »Ich« ausmachen können:

Was haben Gefühle mit mir zu tun, was meine Gedanken? Ist mein Aussehen für meine Identität wichtig? Wie sehr bestimmt meine Umgebung mein Selbstbild, was denken andere von mir? Welche unterschiedlichen Rollen nehme ich ein und wie sehr sind diese Rollen Teil meiner Identität? Was sagen die Dinge, die ich gerne tue, über mich aus? Wie wichtig sind eigene Entscheidungen für mein Wesen? Und was ist, wenn ich mich anders fühle als alle anderen? Fragen über Fragen, auf die die Kinder beeindruckende Antworten gesucht und gefunden haben.

 

Die Gedankenflieger arbeiten erlebnisorientiert, die 90 Minuten sind in verschiedene Phasen aufgeteilt und so erlernen die Kinder die Kulturtechnik des Philosophierens spielerisch mit allen Sinnen. »Erleben« wurde auch in der 3a gleich zu Beginn des Gedankenflugs mit dem Abspielen unseres Songs zu einer Quelle des Denkens, zum Ausgangspunkt unseres gemeinsamen Gespräches auf Augenhöhe.

 

Als sich die Zeit dem Ende zuneigt, treten wir zusammen in einen Kreis und Anne Jaspersen lässt den roten Faden herumgehen.

Wir stehen beisammen und ein jeder benennt, wie er die vergangene Doppelstunde, unseren Besuch, wahrgenommen hat. Die Kinder hören einander zu – nur selten doppelt sich das Gesagte. Im Gegenteil: Die Kinder nehmen aufeinander Bezug, ergänzen einander und danken uns für unser Kommen.

 

Wir kommen wieder, keine Frage. Und das Dank der Unterstützung der Stiftung Kinderjahre.