
1. April 2025
Methode Mut-Blume
von Ulrike Jänichen.
Vor einer großen Runde ganz offen seine Gedanken und Gefühle zu äußern, dabei auch zu riskieren, einmal in eine Sackgasse zu denken, einzulenken, um sich dann, vielleicht angeregt durch Impulse der anderen auf ganz neue Ideen bringen zu lassen, erfordert sehr viel Mut.
»Denken ohne Geländer« (wie es Hannah Arendt nannte) ist nicht selbstverständlich und erfordert viel Selbstvertrauen, erst recht, da die Norm im Alltag meist nach den richtigen Antworten und den effizientesten Lösungen sucht.
Dabei sind ergebnisoffenes Denken und die Freude am gemeinsamen Erkunden von Möglichkeiten ein großes Abenteuer, das unser Zusammenleben reich macht und eine wichtige Grundlage für ein demokratisches Miteinander ist.
Oft machen wir in unseren »Gedankenflügen« die Erfahrung, dass es die Kinder erst einmal irritieren kann, wenn wir nicht nach DER richtigen Antwort suchen. Verunsichert werden die einen stiller, andere hingegen nutzen begeistert diesen ungewohnt offenen Raum. Und schon bald, wenn alle merken, dass jede ihrer Antworten wichtig ist und nicht bewertet wird, kann eine lebendige Runde des gemeinsamen Denkens entstehen.
Wir »verhandeln« die großen Fragen unserer Welt und dazu hat jede und jeder etwas zu sagen, hat eigene Erfahrungen und Aspekte mit einzubringen. Mit verschiedenen Methoden versuchen wir möglichst vielen, bestenfalls allen, Kindern in der Runde Mut zu machen, sich mit dem eigenen am gemeinsamen Denken aktiv zu beteiligen.
Eine solche Einladung zum mutigen Denken ist für uns ein Bündel bunter Holzspachtel, gekauft im Bastelladen und mit einem kleinen Loch in der Mitte versehen. Dieser Strauß wird im Kreis herumgegeben und jedes Kind eingeladen, kurz eine Situation zu schildern, in der es einmal mutig gewesen ist. Auch fragen wir: »Welche Farbe hat Deine Geschichte? Welche Farbe hat für Dich Mut?« Stellvertretend für dieses Erlebnis steckt jedes Kind ein passendes Hölzchen auf ein Stäbchen in der Mitte der Runde. Wer sein Mut-Erlebnis nicht mit allen teilen möchte, darf es für sich behalten, wählt sich trotzdem eine dazugehörige Farbe und steckt sie zu den anderen.

Manchen Kindern will einfach keine mutige Erinnerung einfallen oder sie trauen sich aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht, ihre eigene Geschichte zu teilen. Aber mutig sind alle schon einmal gewesen und so fragen wir, mit Erlaubnis der Kinder, in die große Runde, wann er oder sie in den Augen der anderen schon einmal Mut bewiesen hat? Dies sind oft sehr berührende Momente, denn nicht selten wird genau das, was dem Kind vielleicht am meisten Mühe bereitet von den anderen als besonders mutig wahrgenommen.
»Ich finde, Aman war mutig, als er in Deutsch sein Plakat vorgestellt hat.«
(Lilly)
Und natürlich ist es für alle spannend, wenn auch die Pädagog:innen im Kreis mutig genug sind, um ihre eigene Mut-Geschichte den Kindern zu erzählen.
Diese Methode ist ein niedrigschwelliges Angebot, um einen gemeinsamen Denkraum zu öffnen und »ins Sprechen« zu kommen. Jedes Kind fühlt sich direkt angesprochen und gehört, kann sein eigenes Erlebnis mit den anderen teilen und bringt es am Ende, durch die Schritte in die Mitte des Kreises und das Aufstecken des Hölzchens auch aktiv in das Ganze mit ein.
Mit der Zeit sammeln sich so die mutigen Taten der Kinder in Form eines bunten Gebildes im Zentrum der Runde, für das sie nun gemeinsam einen Namen finden können: Mut-Blume, Mut-Stern oder Mut-Treppe, »auf der man Stufe für Stufe nach oben steigen kann«. Dieses Objekt vereint all ihren Mut. Stolz dürfen die Kinder es mitnehmen, um einen Platz dafür in ihrem Klassenraum zu finden. So können sie sich immer daran erinnern, wieviel Mut sie alle zusammen haben und wie bunt, vielfältig und unterschiedlich dieser ist.

Ausgehend von den individuellen Geschichten, von diesem Moment in dem viele der Kinder durch das eigene Erleben mit dem Thema verbunden sind, können wir nun tiefer gehen und das Thema Mut in vielfältigen Aspekten beleuchten. Vom subjektiven Erleben kommen wir gemeinsam auf die Ebene des abstrakteren, philosophischen Denkens, hin zu den großen Fragen, die wir aber immer wieder mit den nachvollziehbaren, lebensweltnahen Beispielen der Kinder verknüpfen können: Was hilft uns mutig zu sein? Wo im Mut versteckt sich die Angst und wie verhalten sich diese beiden, scheinbar gegensätzlichen Gefühle zueinander? Warum riskieren wir Nervenkitzel und große Unsicherheit, warum sind wir mutig?
Am Ende des gemeinsamen »Gedankenfluges« können wir an diese Methode noch einmal anknüpfen. Zum Abschluss tauchen die bunten Stäbchen wieder auf – diesmal kleiner, nämlich als bunter Haufen in der Mitte. Zu der Frage: »Wofür wünschst Du Dir ganz viel Mut?« darf sich jedes Kind ein Stäbchen aussuchen und ein zweites, um es an eine andere Person weiterzugeben, der es Mut schenken möchten. Denn – so die Erkenntnis in vielen Gesprächsrunden – andere Menschen können entscheidend dazu beitragen, ob man in einer Situation Mut entwickeln kann oder nicht.
Für diese Methode muss man allerdings ausreichend Zeit einplanen, denn meist haben die Kinder große Lust, von den eigenen Erfahrungen zu berichten. Kleine vorher gesteckte Gesprächsregeln können helfen, indem man im Verlauf der Runde immer einmal wieder darauf hinweisen kann. So ist es mit Achtsamkeit möglich eine Balance zu finden, damit jeder sich an der Runde beteiligen kann, gleichzeitig aber im Reden aus Zeitgründen nicht beschnitten wird und im Anschluß immer noch genügend Zeit und Raum bleibt, um die vordergründig beschreibenden Erzählungen gemeinsam zu reflektieren und mit philosophischen Fragestellungen zu verbinden.
Ulrike Jänichen